Texte
- Lóránd Hegyi
Musée d´Art Moderne et Contemporain
Saint-Ètienne Métropole
2016 - Beate Reifenscheid
Museum Ludwig Koblenz
2016 - Werner Meyer
Kunsthalle Göppingen
2016 - Johannes Meinhardt
Rede
2017 - Alexander Tolnay
zu den Arbeiten auf Papier
2017 - Anna Maria Ehrmann-
Schindlbeck, Tuttlingen
2014 - Herbert Köhler
KLG
2014 - Alice Wilke
Kunsthalle Göppingen
2013 - Heiderose Langer
Kunststiftung Erich Hauser
2012 - Isabell Schenk-Weininger
Städtische Galerie
Bietigheim-Bissingen
2011 - Werner Meyer
Kunsthalle Göppingen
2010 - Stefanie Dathe
Ulmer Museum
2006 - Thomas Köllhofer
Kunsthalle Mannheim
1998 - Inge Herold
Kunsthalle Mannheim
1999 - Andrea Hofmann
Kunstverein Friedrichshafen
1996 - Birgit Kempker
Schriftstellerin
1999
Denken – täuschen – verführen – verblüffen
Herbert Köhler
Wer sich den schnellen Überblick über das bisher entstandene, künstlerische Werk Anja Luithles (*1968) verschafft – Kataloge und Webpräsentation machen es möglich –, registriert auffällig viel Damenbekleidung. Röcke und Roben, Krinolinen,Korsetts und Korsagen, Schuhe und auch Handtaschen, Büstenhalter, Slip etc. tauchen in verschiedenen Darstellungsformen auf: einmal als einzelnes Objekt, dann integriert in Installationen sowie auf Zeichnungen, Radierungen und Linolschnitten. Die Materialwahl entspricht in der Hauptsache der gehobenen Textilverwendung im Bekleidungssektor, wenn nicht Material-Fakes eingesetzt werden. Es gibt also keine Extravaganzen oder Exzesse, kein Kleid aus vernähten Hüftsteaks wie es Jana Sterbak 1987 bei einer Performance in Toronto vorgeführt hatte, auch nichts mit Fake-Flesh wie bei den MTV Video Awards 2010, als Lady Gaga so tat als ob. Kein Kleid aus Leuchtstoffröhren, so wie es Atsuko Tanaka 1956 präsentiert hatte. Materialstilistisch geht es bei Anja Luithle eher klassisch-zeitlos zu. Aber das gilt schließlich für die meisten Wölfe in Schafspelzen. Im Allgemeinen nimmt sich Anja Luithle das Textile vor in Form von meist selbstgenähten Kleidungsstücken. Dazu kommen Accessoires. Hin und wieder gibt es auch installative und performative Einblicke in andere, auch textilunabhängigere Wirklichkeiten. Es sind Szenarien, die Situationen des täglichen Lebens isolieren und sie zu Auftritten machen. So kann es zum Beispiel zur Konfrontation mit den verschiedensten Auffassungen von Ballett kommen: zu einer magischen Choreografie von Geschirr auf einem Kaffeetisch etwa; zu einer interaktiven Gruppe von Betrachter und Objekt, wie in Der Rock (1997), der auf perkussive Geräusche mit schnellen Hüftschwüngen reagiert. Broadway (2008) etwa ist eine Installation, in der die Idee von Der Rock (auf ein Ensemble von drei bis vier Seidenröcken in unterschiedlichen Farben angewendet wird. Es ist eine interaktive Arbeit, die den akustisch- kinetischen Dialog von zeichengebendem Betrachter und reagierender Bewegung der Objekte herstellt. Bereitschaftsdienst auf Befehl! Machtspielchen! Der Auftritt kann auch ein Defiliercour von Rollkoffern sein. In der Solitude (2008) genannten Installation schickt Anja Luithle sechs herrenlose Koffer auf Schienen auf zieloffene Reisen. Es herrscht also keine Situation wie an der Gepäckaufgabe von Flughäfen. Jeder Betrachter kann sich in Gedanken einen Koffer aussuchen und sich dazu einen Bestimmungsort ausdenken. Vielleicht seinem Fernweh oder den Reiseerinnerungen nachgehen. Im Küchensektor geht die Ballett-Idee weiter. Meine Suppe (2008) ist eine Installation mit sechs Kochtöpfen, in denen Kochlöffel rühren, sobald der Betrachter den auf acht Minuten eingestellten Bewegungsablauf ausgelöst hat. Als Regietheater funktioniert die achtteilige Installation Domestic affairs (2008). Der Doppelsinn des Werktitels muss hier mitschwingen. Häusliche Aufgaben korrespondieren mit inneren Angelegenheiten. Für die Versinnbildlichung beider Ebenen als Haushaltspolitik steht eine Formation von acht Ziegenhaarbesen bereit. Fünf Minuten lang drehen sich die getakteten Besen mal schnell und mal langsam, mal rechts- und mal linksherum.
Für die Interim 2013 Kunstbiennale im Biosphärengebiet Schwäbische Alb auf dem Gelände des ehemaligen Truppenübungsplatzes Münsingen hat Anja Luithle ihre Installation Frischluft Übungen (2013) eingerichtet. Sie hat dazu 16 vorgefundene Fensterläden an einer ehemaligen Baracke für eine fünfminütige Choreografie kinetisch präpariert. Die Programmierung lässt die zweiteiligen Holzläden nach einer bestimmten Taktung auf- und zugehen, um den dahinterliegenden Räumen elefantenohrengleich Luft zuzufächeln. Das so ventilierte Haus wird zum organischen Austauschaggregat und zur atmenden Architektur.
Anja Luithle entwickelt in der Hauptsache szenische Situationen, in denen das verwendete und auftretende Material beabsichtigt und offensichtlich seine Materialästhetik einsetzt. Doch schnell wird klar, dass es auch eine andere Funktion hat, als nur zu gefallen. Die Materialien wollen attraktive Fährten legen und Spuren in eine Richtung lenken, deren Ziel jedoch zunächst verborgen bleibt. Die ästhetische Ablenkung hat die Aufgabe, die eigentliche künstlerische Aussage zu vertuschen. Diese soll im Betrachtungsprozess regelrecht erarbeitet werden. Das textillastige Material dient Anja Luithle also in erster Linie als Vehikel, als Initiale, als Lunte für eine bevorstehende semantische Zündung, die sich im Verlauf der Objektbetrachtung ergeben soll. Es geht um den Denkweg, der seinen Anfang in einem mit Täuschungsabsicht aufgebautem Einstiegsbild hat. Er leitet direkt über in die dadurch ausgelöste Verführungsattraktion und endet vorläufig im Verständnis der von der Künstlerin intendierten Aussage bzw. Lösungsabsicht. Flapsig ausgedrückt: Anja Luithle denkt sich immer wieder neue Überraschungseier für uns aus. Denken, Erinnern, Auslegen und genüssliches Erkennen.
Von der schönen Welt der Mode also hält sich die Künstlerin fern. Die auftretenden Kleidfiguren scheinen eher sinnliche Platzhalter zu sein, keine Kleidungsstücke mit Trageoption und Körperwirklichkeit. Was Anja Luithle hier anbietet, ist lediglich das Einstiegsbild für einen gelenkten Prozess, den die Betrachtenden zu Ende führen sollen. So können interaktive Spielfelder entstehen, die mit Paradoxien genauso konfrontieren wie mit verblüffenden Lösungen, mit Ratlosigkeit genauso wie mit Lichtern, die einem plötzlich aufgehen können. Dahinter steckt der Appell an die Imagination der Betrachter. Ziel dieses Anspruchs ist die Erlangung der Interpretationsfreiheit eines jeden, der sich dem Angebot öffnet, der sich mit den inividuellen Erinnerungspfaden beteiligen, sich in Bezug setzen will und so den eigenen Hintergrund individuell und verbindlich mit einbringen möchte. Natürlich alles temporär. Man könnte hier durchaus einen Proust’schen Anspruch ableiten. Marcel Proust (1871–1922) hatte in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Imaginationsbild Gebäck – genauer die Madeleine – erinnerungsauslösend eingesetzt und damit ein Mammutwerk in Gang gesetzt. Auf den Geschmack kommen heißt hier also, umfassende Erinnerung zu aktivieren. die Madeleine als Verführungsattraktion für ein Eintauchen sowohl in Tee oder Kaffee als auch in die Rekonstruktion einer Erinnerung. Beispielhaft für die Erinnerung auslösende, Proust’sche Idee steht Anja Luithles kinetische Installation Der Kaffeetisch(2001/2008). Das Kaffeegeschirr auf dem Tisch beginnt sich nach Impulsgebung eines Bewegungsmelders, ausgelöst durch den nahenden Betrachter, wie von Geisterhand geleitet über den Tisch zu bewegen. Möglich macht die telekinetische Situation die unsichtbare Technik unterhalb der Tisches. Auf dem Tisch entwickeln sich Tischmagie (Täuschung), paranormale Energie (Attraktion) und Witz (Überraschung) in einem. Jeder kann sich in die Situationen selbst erlebter Kaffeerunden zurück versetzen, kann sich die Personen, Gerüche und Geräusche dazu denken und sich die jeweilige Stimmungswirklichkeiten vergegenwärtigen, ob sie gut oder schlecht waren. Eine ähnliche, katalysatorische Aufgabe wie die Madeleine bei Marcel Proust übernimmt auch die Kleidfigur in Anja Luithle Werk.
Nun fällt auf, dass Anja Luithles Damenkleider ein Dasein konsequent ohne Trägerinnen führen, obwohl sie sehr betont auf deren mögliche Körperwirklichkeiten anspielen. Was tut ein Kleid, das nicht auf eine Trägerin angewiesen ist? Wartet es auf seinen Einsatz als Platzhalter? Signalisiert es die Abwesenheit der Zubekleidenden oder mehr die Autonomie des Kleides? Ist es tragbare Hülle en façon, die vielleicht einfach nur auf die Füllung durch einen geeigneten Körper wartet? Oder ist dem Kleidungsstück gar gerade ein Körper entstiegen, wie in Komme gleich wieder? Verkörpert die Kleidfigur eine Stellvertreterfigur? Könnte es nicht doch um das Eigenleben der Kleider, um autonom gewordene Reliquien ihrer abwesenden Körper gehen? Solche Fragen kann man kreisen lassen. Sie sind genauso erlaubt wie deren Antworten uneingelöst bleiben müssen. Sie müssen aber gestellt werden, um ihr breites Deutungsspektrum zur Sprache zu bringen.
Sicher ist: Anja Luithle beschäftigt sich zwar mit der physiognomischen Figur, lässt diese jedoch physiologieunabhängig auftreten. Was das heißt? Nun, Körperformen sind in diesem Fall nur über ihre textilen Substrate präsent. Es fehlt generell ein spezifisches „Haut-Ich“ (Didier Anzieu) mit seinem obligaten Körper, um die sogenannte „zweite Haut“ zu bewohnen. Damit ist sie Textilfassade der ersten. Anja Luithles Kleid neutralisiert und sterilisiert nicht nur den zur Kleidfigur gehörenden Körper, sondern entmachtet ihn gleich ganz, lässt ihm nur noch die Erinnerung an seinen möglichen Kokon, seine Schale, seine Fassade, seine Hülle, seinen Container (Wilfred Bion). Diese Vorgehensweise deutet sehr darauf hin, dass Anja Luithle ihre Kleidfiguren als Einstiegsoptik für das einsetzt, was sich aus ihnen und ihren Zusammenhängen, in denen sie auftreten, ableiten lässt. Mit anderen Worten. Anja Luithle ist nicht davon abhängig, für ihre künstlerische Aussagen textile Materialien einzusetzen. Sie tut es aber, weil es ihr Material ist, über das sie ihre Werke auf den Denkweg bringen will. Dadurch unter-scheidet sich ihre Kunst wesentlich von der jener Künstlerkollegen, die in den letzten gut 50 Jahren vorwiegend an Materialaussagen interessiert waren. So ist etwa Textil als Wärmesignal wie noch bei Joseph Beuys (1921–1986), und Weichmacher wie bei den Soft Artists nicht Anja Luithles Sache. Natürlich arbeitet die Künstlerin ebenfalls vor dem Hintergrund jener Kollegen, die Stoff und Textil zu ihrem künstlerischen Schwerpunkt gemacht haben. Ganz allgemeine Bezüge könnte es zu Robert Gobers, Rebecca Horns oder Isa Genzkens Textilaffinitäten geben. Vielleicht schwingen auch noch leichte „Spätabfärbungen“ von Fiber-Art-Künstlerinnen wie Jagoda Buic, Magdalena Abakanovicz, Sheila Hicks und Agata Oleksiak mit. Aber im Materialumgang selbst hat Anja Luithle einen unverwechselbaren Personalstil entwickelt. Definitiv kommen die Einflüsse nicht aus der Haute Couture und deren Tragbarkeitsauswurf im Prêt-à-porter. Es geht also nicht um das Spiel von Zeigen und Verhüllen wie es in der Mode praktiziert wird. Und trotzdem gibt es ein ganz klares Zeigen und Verhüllen. Nur, Anja Luithle nimmt das Kleid als autonomes Objekt ernst. Und so ist es schließlich zu ihrem Hauptdarsteller geworden. Sie erklärt es zu einer Conférencière, zu einer Performerin, einer Hautfigur, die sich immer andere Schauplätze und Szenen sucht, um in deren Umgebungsrealität immer wieder unterhaltsam-nachdenkliche Regien aufzuführen.
Wenn Anja Luithles Kleidfiguren weder Ideengeber für das Modedesign sind, noch zur visualisierten Modekritik eingesetzt werden, worin besteht dann ihre Aufgabe als Objekt und ihre Funktion innerhalb der Szenerie? Um die Antwort darauf deutlich zu machen, hilft ein Blick zurück in die Kunstgeschichte. Denn Anja Luithles Kunst kann durchaus aus dem Geiste Oskar Schlemmers abgeleitet und vor dem Hintergrund einiger Bauhausideen verstanden werden. In den 1920er-Jahren hatte Oskar Schlemmer (1888–1943) sein Triadisches Ballett enwickelt. Er hatte damit jene drei Parameter (Triade) ins Spiel gebracht, die bei Anja Luithle offensichtlich ebenfalls eine strukturale Rolle spielen, wenn auch in einem anders angelegten intentionalen Zusammenhang. Bei Oskar Schlemmer heißt diese Trias: Kostüm, Choreografie und Musik. Gemeint sind mit diesen Modi die Parameter Optik, Kinetik und Akustik. Mit ihrem Zusammenspiel sollten alle drei Sinnesqualitäten im aufgeführten Stück gleichberechtigt eingesetzt werden und ineinander greifen. Bei Anja Luithle wird aus Schlemmers Modi nun die Trias: Kleid, Regie (durch Bewegungsprogrammierung) und Ablaufakustik. Anja Luithle entwickelt ihre Installationen also in ähnlicher Weise wie Oskar Schlemmer triadisch, im Sinne eines dialektischen Prinzips mit den bekannten Hegelschen Zutaten oder der semiotischen Struktur, die einen triadischen Zeichenbegriff (Charles S. Peirce) deutlich macht. Und noch etwas anderes verbindet Schlemmer und Luithle. Beide billigen sie dem Witz, der Ironie und dem Humor einen wesentlichen Stellenwert zu. Die im Deutschen gebräuchlichen Wörter (Witz, Ironie, Humor) würden das Gemeinte bei Anja Luithle jedoch nur unzureichend treffen. Denn was sie hier wirklich antreibt, schöpft sie aus ihrem umwerfenden Talent zum knallharten Esprit. Die Spannbreite seinerQualitäten geht bei Anja Luithle entschieden weiter als bei Oskar Schlemmer und umfasst den weiten und meist erzählerisch angelegten Bogen zwischen Offensichtlichkeit und Subversion ebenso wie Täuschung (Fake), Verführung(Seduction, Attraction) und Überraschung (Surprise).
Ist ein Denkweg durch den Betrachter einmal ausgelesen und bei der Pointe angelangt, können Reaktionen hervorgerufen werden, die vom heimlichen Schmunzeln bis zum offenen Überraschungs-Gelasma reichen. Es ist das Spektrum vom erstickten über das sinnentdeckende bis zum befreienden Lachen, und, wenn es um Ventilsitten geht, sogar ein Lachen als Waffe. Anja Luithles Objekte und Installationen für innen und außen verdeutlichen diese Haltung als Grundtimbre ihrer Kunst. Es ist eine durchaus schelmische Haltung, die ihr eigentliches Ziel im pointierten, hakenschlagenden Entdecken sieht, also vornehmlich im Überraschen und Verblüffen. Und diese Haltung prägt den immateriellen, konzeptuellen Teil ihres Personalstils. Der Ansatz zu dieser Brandmark Luithle hatte sich noch im Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart herausgebildet. Da sind zunächst die fast kleinplastischen Performing Objects von 1993, textile Objekte zum Anfassen mit eingebauten digitalen Sprachspeichern, die auch Geräusche erzeugen und auf die Bewegung, bzw. Interaktion der Betrachtenden reagieren. 1994 führte Anja Luithle ihr erstes zehnminütiges, sogenanntes „Objekttheater“ mit dem Titel L’amour fou auf, eine Art choreografische Kurzoper nach der gleichnamigen Erzählung von André Breton (1896–1966), erschienen 1937. Im Mittelpunkt des Geschehens agiert die Hauptfigur Jacqueline Lamba in ihrem fantasievollen Kleid, das im Zusammenhang mit dem Bühnenbild immer wieder zu optischen Verschmelzungen führt, die an von Krinolinen oder Paniers à coudes inspirierte Kreationen denken lassen.
Ein Jahr später, 1995, führt Anja Luithle ihr 20-minütiges Jägerlatein auf. Jetzt nennt sie es „performatives Theater mit Objekten“. In beiden Stücken ist schon alles angelegt, was später Markenzeichen werden sollte. Allerdings wird ein entscheidender Eingriff stattfinden. Die Kleider, die zu Beginn noch durch Akteure beseelt waren, werden von nun an als autonome Kleider auftreten und ihren Rollenkörper entkernt spielen. Außerdem werden die Bewegungsabläufe der Agierenden choreografisch stark eingeschränkt und automatisiert. Die Regien werden programmiert oder in selten Fällen, wie der Wegweiserin (2009), auch natürlichen Einwirkungen ausgesetzt. Am Ende ihres Studiums arbeitet Anja Luithle an handlichen Objekten und bringt sie in einen interaktiven Zusammenhang. Während eines Aufenthaltes in Mexiko und Guatemala 1994 entsteht so die Fotoserie objetivo: la luna. Die Künstlerin drückt dabei wildfremden Menschen ein Stoffobjekt in die Hand und macht dann ein Foto der Situation. Es kommt zu überraschenden wie skurrilen Kombinationen von Mensch und Objekt. Alle Objekte, die Anja Luithle seit dieser Zeit bis in die Gegenwart entwickelt hat, verfügen über diesen mit eingebauten Hintersinn, der sich jedoch erst über seine interaktive Einbettung voll entwickeln kann. Wenn sie etwa einen Bikini auf dem Boden platziert, geschieht das in plastischer Körperform der beiden Teile. Der Bildtitel Komme gleich wieder erklärt dann alles.
Wenn Anja Luithle ein torsohaftes Objekt aus Nägeln zusammenlötet, nennt sie es nicht Korsett, obwohl es sehr danach aussieht, sondern – wie ein Materialkommentar zum Korsett – 2 Kilo Nägel (1995). Und es geht weiter so. Das Entspannung signalisierende Rosenkissen entpuppt sich als Kissen mit Dornen auf rotem Samt. Im Futter einer halb geöffneten Handtasche (1998) bewegt sich ein Augenpaar beobachtend hin und her. Der Blick aus der Tasche heraus wirkt sehr echt, obwohl es ihn in Wirklichkeit nicht geben kann. Hier funktioniert er als Umkehrschub des gewohnten Blicks. Man kann sich jetzt vorstellen, wie sich eine Handtasche fühlen muss, die sich ständig den Blick ins Innerste gefallen lassen muss. Und der im Objekt verpackte Hintersinn geht weiter. Aus einem Seidenärmel gleiten zwei Hände, wie im Wandobjekt Klon (1998). Im Fußbett eines Schuhs können Nägel stecken, Geweihteile, Hörner oder andere scharfe Sachen, die da nicht hingehören. Beuteschema und Jagd, Genderdiskurs und Trophäen, Jägerlatein und Märchenstunde – alles mal ganz anders!
Seit etwa 1995 setzt Anja Luithle Motoren ein, um Bewegungsabläufe zu realisieren. Zu den ersten Kleider-Arbeiten dieser Art gehört das Objekt Durchschnitt (1995). Hier rotiert ein Messer in der Nabelhöhe eines blauen Kleides. Offensichtlich gibt es eine propellernd-säbelnde Unruhe im Gefühlszentrum. Wie war das nochmal, als einen selbst ähnliche Gefühle heimsuchten? Anja Luithle liefert das Bild dazu. Dann die Rote Dame (1996). Ein Motor bringt das leuchtend rote Samtkleid zum Vibrieren. Es steht jetzt – ganz im zitternden Erregungsübermut – unter Strom. Die Betrachtenden bekommen die Bewegung eines Gefühlszustandes angeboten, den sie durch Erinnerung an eigenes Erleben nachempfinden und individuell rekonstruieren können. Dabei bleibt offen, ob die Erregung negativ oder positiv gedeutet werden soll: Zittern vor Angst oder liebender Erwartungsdruck. In Neck and crop (2011) wird die Vibration auf einen bestimmten Teil des Objekts reduziert. Der Kleidfigur aus Changeant-Samt ist eine Fuchsstola umgelegt. Eigentlich nichts Spektakuläres. Die Kombination lässt an vergangene Zeiten denken, in denen sich stolze Damen gerne noch mit den Jagdtrophäen ihrer stolzen Männer zeigten. Anja Luithle rekonstruiert diesen Erregungskomfort, indem sie eine speicherprogrammierte Steuerung dafür sorgen lässt, dass die Stola zu zittern beginnt, sobald sich ihr ein Betrachter nähert. Man kann sich nun fragen, ob der Fuchs als Tier aus Angst zu zittern beginnt, ob der Fuchs als Stola in Betrachtungsaufregung versetzt wird, ob wieder so etwas wie der zitternde Erregungsübermut einer in Wallung gebrachten Dame gemeint sein könnte oder ob das Zittern nur den Zweck hat, seinen Betrachter zu erschrecken. Jede Figur, jedes Objekt birgt die Idee einer Kurzgeschichte. Was will uns die Rosendame (1997) erzählen, die vor ihrer Brust ein Hōchō, ein japanisches Küchenmesser in tranchierender Absicht bewegt? Autoaggression? Harakiri-Gedanken? Vielleicht das Gefühl, wie es ist, wenn einer einem das Messer auf die Brust setzt? Die blaue Reiterin (2011), durchaus auch als Anspielung auf die 1911 gegründete Künstlergruppe Der Blaue Reiter zu verstehen, lässt von der Schauseite aus nicht vermuten, was hinter ihr stecken könnte. Die Kleidfigur versteckt einen Cowboystiefel mit Spore hinter ihrem Rücken. Es ist ein Schuh in Kindergröße, und er hat seine eigene Geschichte. Wer genau hinsieht, merkt, dass dieser Schuh kein echtes Bekleidungsstück ist. Anja Luithle hat ihn aufwendig und täuschend ähnlich als Fake Object gearbeitet. Übrigens kommen diese Fakes im Gesamtwerk nicht selten vor. Was aber soll diese Vortäuschung falscher Tatsachen? Warum kein echter Schuh? Die Interpreten müssen ihre Geschichten dazu erfinden.
Immer wieder macht Anja Luithle in ihren kinetischen Installationen anstatt Kleider Schuhe zu Akteuren. Sobringt die Arbeit busybusybusy (1997) ein rotes Schuhpaar in rasche Laufbewegung. Der Eindruck von optischer Hektik wird durch ein schabendes Geräusch zusätzlich akustisch verstärkt. Der Bildtitel ist unverstellt sinnfällig.Bei den Überlegungen zu einer Strategie für ihre Karriere als Künstlerin, löst Anja Luithle das Problem vorläufig mit einem Objekt, das sie Karriereleiter (1997) nennt. Sie montiert ein Paar rote Damenschuhe auf drei Meter hohe, vertikal gestellte Schienen. Die roten Schuhe laufen nach oben, um den Gipfel der Leiter zu erreichen. Im Zenit angekommen, fallen sie ungebremst und schlagen mit einem sehr lauten Knall unten auf. Das Spiel wiederholt sich. Karriere als Sisyphosarbeit. Ein steter Weg nach oben und dann immer wieder die Reset-Taste kurz vor dem Ziel. Auf geht’s!
Crossover (2009) nimmt die Idee der Kleidfigurhälften von Die Rennende (1997) wieder auf und stellt sie in einen verwirrend überschneidenden Zusammenhang. Für die Kleiderelemente verwendet Anja Luithle Seidenjacquard. Joseph-Marie Jacquard (1752–1834) war der Erfinder einer über Lochkarten gesteuerten Musterwebmaschine. Es ist der textile Wink der Künstlerin auf die Automatisierung von Webvorgängen einerseits und gleichzeitig auf die eigene webartigen Konstruktion der über Kreuz laufenden Bewegungsprogrammierung der Installation. Hier laufen vier vierteilige Kleidfiguren über Kreuzschienen auseinander und finden nach neunminütiger,konsolidierender Bewegung wieder zu einer ganzen Figur zusammen. Dann geht das Spiel von vorne los.
Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße. Zwischen der Staatsgalerie und der Musikhochschule liegt das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. Hier an diesem Museum hat Anja Luithle ihre Gratwanderin im Außenbereich installiert. 2002 schon als kinetische, rot lackierte Kleidfigur unübersehbar auf der Brüstung der Dachterrasse des Gebäudes eingerichtet, erfolgte dann 2011 die Verlängerung der Laufschienen auf jeweils 16 Meter Länge. Die Gratwanderin balanciert hin und her. Sie scheint unablässig auf Patrouille zu sein, sichert die im Inneren befindlichen Bestände und vermittelt nach außen, dass es hier jemanden gibt, die traumwandlerisch auf der Hut ist. Wer auf dem Grat wandert, sieht nicht nur in die Abgründe, sondern hat auch den Überblick. Das ist der einzige Vorteil eines labilen Daseins. Ein anderer Abgrund tut sich auf, wenn man sich auf einen Sprung aus großer Höhe vorbereitet. Vor dem neuen Familienbad der Stadt Fellbach platzierte Anja Luithle 2013 wieder eine ihrer roten Damen. Es ist Die Springerin, die sich auf einem Sprungbrett in etwa fünf Meter Höhe befindet und sich auf einer Lauflänge von drei Metern in programmiertem Intervall vor und zurück bewegt. Unten am Boden hat sie ihre Schuhe (Eisenguss)abgelegt. Nie aber wird es zu einem Sprung kommen. Es bleibt bei der Endlosschleife einer attraktiven Zögerlichkeit, nicht nur weil das Bassin fehlt.
Erwähnt seien hier ein paar Objekte, die im Werk Anja Luithles etwas aus dem Rahmen fallen, wie Die Gummifrau(1995/96). Je nach Aufbaumodus befindet sich nahe bei oder in der Kleidfigur (PVC) eine Pumpe, die einen Kreislauf von roter Flüssigkeit über ein darunter platziertes PVC-Schuhpaar aufrecht erhält. Die Krawatte (2008) gehört zu den wenigen Objekten in Anja Luithles Schaffen, die sich einem typischen Kleidungsstück für Herren annehmen. Über einen Motor lässt sich die Krawatte verlängern und wieder verkürzen. Das gleiche Prinzip hat Anja Luithle im Objekt Max (1998/2010) angewendet, das mit der variablen Ärmellänge eines Oberteils spielt. An den drei Achsen der freistehenden Stahlkonstruktion Titelmaschine (2013) drehen sich langsam verschiedene Zeigeschilder mit Wörtern in verschiedene Richtungen. Sie kombinieren, je nach Betrachterstandpunkt, ständig neue semantische Zusammenhänge mit dem Ergebnis oft skurriler Poetik. Man kann an Tristan Tzaras (1896–1963) Luftwürfe mit beschriebenen Zetteln denken, die, wenn sie auf dem Boden gelandet waren, neue Sinn- oder Unsinnzusammenhänge ergaben. Dada eben. Später gab es in der Écriture automatique ähnlich funktionierende Phrasendreschmaschinen. Parallel zu den kinetischen Objekten und Installationen hat Anja Luithle ein umfangreiches Werk an Radierungen, Zeichnungen und insbesondere an Linoldrucken erarbeitet. Darunter befinden sich sowohl klein- wie großformatige Arbeiten; als Einzelarbeit, in Serie geschaltet, aber auch installativ involviert. Ihre Linoldrucke realisiert die Künstlerin vorwiegend auf Stoffen unterschiedlicher Art, etwa auf Satin und Damast, Baumwolle und Leinwand. Ganz textillos bleibt der Wechsel in andere Gattungen also nicht. Stoffe funktionieren jetzt als strukturierte Bildträger für paradox angelegte Bildthemen. Der Einsatz von Text im Bild aus dem unerschöpflichen Reservoir Geflügelter Wörter verschärft die künstlerischen Aussagen zusätzlich, zumal die Zitate konterkarierend und nicht emblematisch als Kommentar zum Bild verstanden werden. Pointe. Unter den Linoldrucken befindet sich die Serie Wertpapiere. Mit diesen könnte die Brandmark Luithle sicher an die Börse, wären sie nicht alle auf ortsrelevantes Toilettenpapier gedruckt. Aber: Pecunia non olet!
"Künstler", Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 105/ Heft 5/1.Quartal 2014
Herbert Köhler
1953 geboren, promovierter Kunsthistoriker und Musikwissenschaftler, arbeitet vorwiegend als Kunst- und Kulturpublizist für Printmedien und Rundfunk. AICA-Mitglied (Association Internationale des Critiques d´Art)