Texte
- Lóránd Hegyi
Musée d´Art Moderne et Contemporain
Saint-Ètienne Métropole
2016 - Beate Reifenscheid
Museum Ludwig Koblenz
2016 - Werner Meyer
Kunsthalle Göppingen
2016 - Johannes Meinhardt
Rede
2017 - Alexander Tolnay
zu den Arbeiten auf Papier
2017 - Anna Maria Ehrmann-
Schindlbeck, Tuttlingen
2014 - Herbert Köhler
KLG
2014 - Alice Wilke
Kunsthalle Göppingen
2013 - Heiderose Langer
Kunststiftung Erich Hauser
2012 - Isabell Schenk-Weininger
Städtische Galerie
Bietigheim-Bissingen
2011 - Werner Meyer
Kunsthalle Göppingen
2010 - Stefanie Dathe
Ulmer Museum
2006 - Thomas Köllhofer
Kunsthalle Mannheim
1998 - Inge Herold
Kunsthalle Mannheim
1999 - Andrea Hofmann
Kunstverein Friedrichshafen
1996 - Birgit Kempker
Schriftstellerin
1999
Eröffnungsrede „Exercises“
Städtische Galerie Bad Waldsee
„Vor Allem und zuerst die Werke!
Das heißt Übung, Übung, Übung!
Der dazugehörige 'Glaube' wird
sich schon einstellen – dessen seid versichert!“
– Friedrich Nietzsche: Morgenröte
Darin bringt der Philosoph das Machen ebenso wie die Wahrnehmung von Kunst, von jeder Form von Ritual auf den Punkt.
Meine Damen und Herren,
draußen auf dem See schwimmen zwei weibliche Figuren; wenn man genauer hinsieht, sind es Torsi und eigentlich erkennt man nur die Skulpturen zweier roter Kleider aus Kunstharz geformt. Die sind so gut wie identisch gebildet, das eine ist die Spiegelung des anderen und die beiden kreisen umeinander, im Sinne der Spiegelung umkreisen sich Bild und Ebenbild in ständig anderen Konstellationen.
Das rote Kleid, das ikongraphisch häufig wiederkehrt im Werk von Anja Luithle, steht für die weibliche Existenz, für den imaginären weiblichen Körper, den es umformt.
Rot ist eine Signalfarbe: im Zusammenhang mit dem weiblichen Körper assoziieren wir Erotik, Aufmerksamkeit, die durch diesen Farbreiz erhöht und intensiviert wird. Rot steht für Liebe in allen Facetten, aber auch für Blut, für Leiden - in der Kombination spricht man von Passion, wie man im katholischen Oberschwaben sicher weiß.
Aber Rot ist auch eine wunderbare Farbe, die sich in dem Kontext der Natur selbstsicher zu behaupten weiß - als Komplementärfarbe zu Grün und eigenständig im Wasser, das von Blau bis Grau einen starken Grund für das eigenwillige Sein der Figuren darstellt.
Wichtig ist die Bewegung - Anja Luithles Figuren sind kinetische Skulpturen, ein wesentliches Moment ist also ihre Bewegung. Die Situation ist im Fluss, immer in Veränderung, und doch ist es immer die gleiche Übung: schwimmen, sich über dem Wasser halten, selbst die Spiegelung in Bewegung haltend.
Schwimmen und sich spiegeln ist die ewige Wiederholung und zugleich die Kritik der Wiederholung, "die ewige Wiederkehr des Immer Gleichen", um mit Friedrich Nietzsche zu reden, das Gleiche und zugleich das stets andere, das uns in der Wiederholung bannt.Wesentlich für das Bild und die Metapher, die sich darin verbirgt, ist die Bewegung, die fließende Geste des Zueinander von Bild und Ebenbild, von Existenz und Spiegelung, ein dauerhaftes Spiel der Konstellationen. Die Doppelung, die Spieglung hat auch etwas von der Spiegelung einer Spielkarte - Herz Dame.
Unten an der Treppe steht „Übung Nr. 2: Ausharren“ in Stahlbändern geformt Korsett und Krinoline, beide gehören zum Unterbau eines Kleides, das den weiblichen Körper mehr formt als ihn tatsächlich abbildet. Das hat etwas von Kleidung als Norm, als ästhetischem Äußeren von Körperkonstruktion. Wir erkennen in den Stahlbändern das Prototypische, das Allgemeine im Bild über dem Individuellen, das darin eingeschlossen ist. Wir erkennen den Käfig, das Unerbittliche und den Zwang des Korsetts - dem entspricht der Titel „Ausharren“, Verhalten als Erstarrung - die eingeschränkte, ausgesetzte Ruhe und Stille ist das Gegenbild zur freien Bewegung. Figur und Abstraktion halten sich in der Zeichnung mit Eisenbändern die Waage.
Ich versuche Ihnen ein Stück Dramaturgie dieser Ausstellung zu vermitteln, wen ich nun unterstelle, dass Sie den Blick nach oben gewandt haben, bevor Sie die Treppe hinaufstiegen. Dann haben Sie als nächstes „Übung Nr.4: Beugen“ gesehen, wieder ein rotes Kleid als Figur über das Geländer nach unten gerichtet. Dadurch, dass die Arme nicht stützen, sondern die Ärmel über das Geländer hinausreichen, entsteht die eigenartige Dramatik der Figur - es ist mehr eine dramatische Geste als ein Hinuntersehen. Als ob die Figur etwas unsichtbares zwingt. Oben angekommen sehen wir diese Figur von der Seite und von hinten und wir spüren den Körper im Kleid, seine Bewegung, ohne dass wir ihn sehen.
Dass alle Figuren Anja Luithles Hüllen ohne Körper sind geht von einer wesentlichen These der Kunst aus: der These von der gesteigerten Anwesenheit durch Abwesenheit. Das bezeichnet die Spannung zwischen einem sichtbaren Äußeren und dem nicht sichtbaren, um so mehr zu spürenden und zugleich rätselhaften Inneren.
Das ist ein Bild im Bild von dem ewig spannungsvollen Verhältnis von äußerer Form und innerer Bedeutung. Mit ihrer ebenso abstrakten wie gegenwärtigen Vorstellung vom Körper, der eben nicht gegenständlich ist, spüren wir die Bewegung als Moment von Gefühl, das Ihrer Einbildungskraft überantwortet ist, Ihrer Fähigkeit zur Konstruktion des Sinns und der Bedeutung. Die Künstlerin hat die Skulptur genau mit dieser bildhaften Energie der Imagination aufgeladen und die Skulptur, das Bild hält diese Spannung. Wir merken, unter „Übung“ ist nicht nur die ausdrucksvolle Bewegung in der der Skulptur zu verstehen, sie ist auch die Animation unserer Vorstellungskraft und das Hinsehen, die bewusste Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ist eine Übung unserer betrachtenden Imagination. Diese Interpretationsübung des Verstehens macht dies zum Bild.
Weitere Übungen als kinetische Skulpturen finden wir hier oben. „Übung 3 :Dehnen“ In einem dunkelblauen Seidenstoff aus Shanghai wächst und schrumpft eine imaginäre Figur. „Frau Max macht Faxen“ nannte Anja Luithle die Figur und wir können es mit Humor sehen, wie sie an Größe gewinnt und dann klein wird. Auch, dass eine, eigentlich zwei Gesten, die wir als Körpersprache wahrnehmen und interpretieren können, als Dehnübung eher geheimnisvoll kommunikativ wirkt als dass wir sie als sportliche Übung begreifen. „Übung 5: Aus der Hüfte schwingen“ lässt uns schmunzeln. Am besten man klatscht in die Hände oder ist sonst irgendwie laut, dann schwingen die Figur die Hüfte, den vermeintlichen Po und erfreuen uns wie Varieté-Tänzerinnen, in Formation. Auch das ist eine sprechende Geste, unterhaltend, vielleicht animierend, ein typisch weibliches Klischee oder Bewegungsritual, gepaart mit Beifall, oder aufforderndem Klatschen. ‚Broadway 2008‘ ist der Untertitel und verweist auf die Show, die Vorführung. Wieder schafft Anja Luithle die feine Balance zwischen Affirmation, Genuss der Unterhaltung und dem kritischen Moment: die Reduzierung, die zugleich eine Offenbarung und im gewissen Sinne eine Ent-täuschung ist, denn wir merken, dass der körperliche Reiz in unserer Wahrnehmung liegt, die mit gemischten Gefühlen das Ihrige dazutut.
Schließlich „Übung Nr. 6: Entscheiden - Untertitel: zum täglichen Gebrauch: 1. Anleitung zum Ja-Sagen, 2. Anleitung zum Nein-Sagen, 1996/2010“. Die Geste, immer wiederholt als Übung, ist zentrale kulturelle Körpersprache. Subtil spielt Anja Luithle mit der Ikonographie der Frisur: lange Haare und blond wird mit ja, Pagen-Frisur mit dunklen Haaren wird mit Nein verbunden. Hell-Dunkel, Vertikale-Horizontale sind die formalen Kontraste, mit denen die zentralen Übungen der Zustimmung und der Ablehnung belegt sind, in der Darstellung so mechanisch wie emotional aufgeladen. Anja Luithles Skulpturen treffen sich in dem Selbstverständnis als Exercises, als Übungen, mit dem neuesten Buch von Peter Sloterdijk: Du musst Dein Leben ändern (der Titel ist aus einem Gedicht von Rilke: Archaischer Torso Apollos: Es handelt von der Perfektion des Torsos, dessen Vollkommenheit in der „Botschaftsmächtigkeit“ liegt, wie Peter Sloterdijk dessen Intensität und Ansprache nennt.
Ein anderer Aspekt soll uns hier mehr interessieren - das Prinzip der Übung: die Wiederholung verlangt Konzentration auf das Wesentliche. In der Wiederholung entsteht Übung, Übung zur Selbstformung, zur ausdrucksvollen Selbstformung; und wenn wir unsere Handlungen, ganz alltägliche, oder in der erotischen Kommunikation, oder in religiösen Ritualen, oder in der Ausübung der Künste, wenn wir dies als ständige Wiederholung begreifen, dann verstehen wir die Frage und die These Peter Sloterdijks: Was macht den Menschen zum Menschen, zum handelnden und reflektierenden Wesen, wie gestaltet sich menschliches Leben? - die Antwort: „Er tut es durch sein Leben in Übungen“. Von klein auf lernen wir durch üben, für die Übungen haben wir wechselnde Trainer und Zusammenhänge - richtiges Verhalten ist Übungssache. Die Beherrschung der Übungen macht uns sicher, sie dienen der Formung und der Steigerung unseres Selbst. Der Menschwird mit der Beherrschung der Übungen selbständig, findet seine Rollen. Auch die Schauspielerei ist eine Sache der wiederholten Übung, genauso wie das formvollendete Essen mit Messer und Gabel, das ansprechende Nicken oder Kopfschütteln, das Sich-Aufrichten oder das Sich-Klein-Machen, oder der reizende Hüftschwung, mit dem wir dem Körper attraktive Erotik verleihen. Kultur ist Übung. Das macht den Menschen aus und macht ihn im Sinne der Kommunikation und des Zusammenlebens zum sprechenden und interpretierbaren Bild.
Mit dem bewussten Üben verbindet sich auch ein Studium, die Wiederholung ist zugleich eine Reflexion der Übung, mit dem Können verbindet sich Wissen. Das Tun ist nicht mehr naiv, und wenn wir die Übungspraxis des Lebens von außen sehen und beobachten verbinden sich Erkennen und Befremdlich werden, Befragung, und wir üben weiter um wieder Antworten zu finden, denn wir erobern das Leben durch Lernen, und Lernen ist üben, üben, üben.
Noch ein anderes: Anja Luithles Figuren haben keine Körper - Wer ist das, die da drin steckt, für die die Kleider und die Gesten und die Haltungen zur Übung sind? Es ist niemand, niemand bestimmtes. Niemand ist nicht nichts, es ist die Leerstelle, die wir durch Konstruktion, durch Projektion, durch die Hülle zum geheimnisvollen Unbekannten machen.
In der englischen Sprache ist niemand ‚nobody‘, der oder die ohne Körper. Es ist diese geheimnisvolle Person, die bei Held „Kann nit verstan“ heißt, die immer herhalten muss als Schuldige, wenn wir etwas nicht erklären können oder wollen. Nobody stellt das ganze Kulturprogramm des Übens in Frage. Nobody ist die Idee, das Abstraktum, das in der angestrebten Perfektion des Übens steckt. „No-Body is perfect“ sind wir gezwungen zuzugeben. Wir können es auch anders sagen Nobody ist perfect. Das ist die These für die gesteigerte, ideale Anwesenheit des Abwesenden.
Mit humorvollem Bezug auf unseren Alltag, auf ganz elementare Gesten, ist das eine zentrale Vermutung, eine Hypothese der Körperlosigkeit der Figuren Anja Luithles und der Übungen, die sie uns zur Betrachtung vorführen. Noch mal Peter Sloterdijk: „Wiederholung plus Übersetzung plus Generalisierung ergibt, richtig gerechnet, Verdeutlichung“ (33).